EINLEITUNG


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Wenn Gerhard Neumaier sich zur Titelfindung seiner Werke von Texten des frühromantischen Schriftstellers Novalis (Friedrich von Hardenberg) inspirieren lässt, kommt darin auch das romantische Verständnis des Mythos zum Ausdruck.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nicht lange wird der schöne Fremde säumen.

Die Wärme naht, die Ewigkeit beginnt.

Die Königin erwacht aus langen Träumen,

Wenn Meer und Land in Liebesglut zerrinnt.

Die kalte Nacht wird diese Stätte räumen,

Wenn Fabel erst das alte Recht gewinnt.

In Freyas Schoß wird sich die Welt entzürnen

Und jede Sehnsucht ihre Sehnsucht find

Novalis (Friedrich von Hardenberg).

 

 

Die kalte Nacht wird diese Stätte räumen (Abb.: 1)

 

Einführung

Cora von Pape

Die Lust an der Macht des Malens zwischen Mythos und Trivialität.

 

Wenn Gerhard Neumaier sich zur Titelfindung seiner Werke von Texten des frühromantischen Schriftstellers Novalis (Friedrich von Hardenberg) inspirieren lässt, kommt darin auch das romantische Verständnis des Mythos zum Ausdruck. Kaum eine Epoche beschäftige das Phänomen des Mythos so anhaltend wie die Romantik. Hegel, Schelling und Schlegel sprechen in ihrer „Neuen Mythologie“ nicht mehr von den Göttern, sondern von dem Verhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem. Das Motiv der blauen Blume verkörpert dabei wie kein anderes die romantische Suche nach innerer Einheit, Heilung und Unendlichkeit. „Die Suche nach der blauen Blume“ (Abb.:  2) die Novalis in seinem, erst posthum erschienenen, Roman „Heinrich von Ofterdingen“ erwähnt1 und die Neumaier 2003 als Titel für eine Arbeit wählt, steht in der Romantik für die Erkenntnis der Natur und letztendlich des Selbst. Auch Titel wie „Wenn sich Natur ins Freie lebt III“ (Abb.:  3) oder „… und durch das Wolkenland trat in den Hof des Mondes Schein“ (Abb.: 4) allesamt von Novalis beeinflusst, sprechen von einer dunklen, mythischen, unkontrollierten Natur. Sie sind symptomatisch für Neumaiers vielschichtige Malereien aus der Serie VEGETATIVES, die Peter Hank in seinem Beitrag in diesem Buch treffend beschreibt als „naturbezüg-liche(n) Abstraktion(en) mit hoher Ausdruckskraft“ (Katalog Die Lust an der Macht des Malens zwischen Mythos und Trivialität S. 112-119).

Ein anderer „Mythos“ beschäftigt Neumaier wenn er sich mit Positionen arrivierter Künstler des
­20. Jahrhunderts auseinandersetzt. In zahlreichen humorvollen und selbstreflektiven Versuchen im Kapitel KONTEXTUELLES zerlegt Neumaier den Künstlermythos eines Kasimir Malewitsch oder eines Daniel Buren in seine tatsächlichen Einzelteile, seine geometrischen Formen, seine 8,7 cm breiten Streifen. „Transavantgarde in Schwarzweiß“ (Abb.:  5) betitelt er etwa eine Arbeit, in der sich schwarz-weiß gehaltene vegetative Malerei in unverkennbarer Neumaier-Handschrift mit monochrom weißen, 8,7 cm breiten, horizontalen Streifen abwechselt. Gerhard Neumaier zitiert dieses Markenzeichen Daniel Burens, adaptiert es im eigenen Stil und unterwandert es damit, wie Beate Reifenscheid in ihrem Textbeitrag in Buch Die Lust an der Macht des Malens zwischen Mythos und Trivialität eindrücklich darlegt (S. 152-157).

Anspielend auf den schweizer Künstler Daniel Spoerri, der seit den 1960er Jahren in seinen „tableaux
pièges“ Reste von Mahlzeiten mit Leim und Konservierungsstoffen auf Tischen fixierte und so drei-
dimensionale Stillleben schuf, nannte Neumaier 2009 seine Arbeit „Man ist was man is(s)t“ (Abb.: 6,) (vgl. Kapitel KOMMENTIERTES). In dieser zu einer Form von „haute cuisine“ veränderten „bourgeoisen“ Version von Daniels Spoerris Eat Art ist das Logo der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Meissen auf dem überdimensionalen Teller unübersehbar aufgemalt, nicht wie üblich auf der Rück-,
sondern auf seiner Vorderseite. Um den Tellerrand herum hat Neumaier pastellfarbene Blumen im Stil von Andy Warhols „flowers“ platziert. Die hierin offensichtlichen, trivialen Anspielungen sind in ihrer Einfachheit bewusst plakativ und abgedreht. Provokant spielt Neumaier hier mit der Macht des Trivialen.

In den Kapiteln Informelle Gegenständlichkeit und (L)imitiertes / Para-artiges begegnen uns Werke, in denen Neumaier zugleich humorvoll und provokant mit trivialen Titel experimentiert, die er zum Bestandteil des Werkes selbst macht: In „Franz Marc triff unverhofft die Milka Kuh“ (Abb.: 7) beschwört Neumaier die Begegnung des expressionistischen Malers blauer, roter und
gelber Kühe mit dem einprägsamen Bild einer Schokoladenmarke herauf, in „Van Gogh beim
gelben Frisör“ (Abb.: 8) bringt er ebenfalls zwei Dinge in Verbindung, die höchstens assoziativ etwas miteinander zu tun haben. Mit dieser Paarung völlig gegensätzlicher kunsthistorischer und alltäglicher Referenzen, mit diesem Akt der Befreiung von jeglichen vorgeschriebenen Regeln und Moralvorstellungen findet Neumaier in der Kombination von Mythos und Trivialität letztendlich zur Macht des Malens. Diese Macht bringt die subjektive Ansicht, die vorgefasste Meinung in Verwirrung und Auflösung und wird zum eigentlichen Ziel seiner Malerei. „Ich male was ich weiß, damit ich sehe, was ich fühle“ (Gerhard Neumaier).


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1 „Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager, und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, sagte er zu sich selbst; fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn’ ich mich zu erblicken.“